Gruppendynamik – die Community besser verstehen

In meiner Weiterbildung in Systemischer Transformationsberatung beschäftige ich mich gerade viel mit dem Thema Gruppendynamik und finde es super spannend, wie ich dadurch Dynamiken nochmal viel geschärfter und vertiefter betrachten kann. Vieles erinnert mich dabei an meine Erfahrungen aus der Community-Arbeit. Auch wenn nicht alles 1-zu-1 übertragbar ist, so kann doch so manches Konzept hilfreich sein, um die eigene Community besser zu verstehen und sich wirkungsvolle Tools zu überlegen.
Was ist eine Gruppe?
Doch gehen wir erst einmal zu den Basics über: Was ist eigentlich eine Gruppe? Laut König/Schattenhofer* besteht eine Gruppe aus 3 bis 20 Mitgliedern (darüber spricht man von einer Großgruppe), die eine gemeinsame Aufgabe oder ein gemeinsames Ziel verfolgen, direkt miteinander kommunizieren können und das alles mit einer gewissen zeitlichen Dauer.
„Darüber hinaus entwickeln Gruppen mit der Zeit
- ein Wir-Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und des Gruppenzusammenhalts,
- ein System gemeinsamer Normen und Werte […] und
- ein Geflecht aufeinander bezogener sozialer Rollen, die auf das Gruppenziel ausgerichtet sind.”
All das sind Aspekte, die wir in Communities wiederfinden. Damit sind Communities eine Form der Gruppe. Auch hier entsteht Zugehörigkeit, auch hier werden Normen und Werte geschaffen, auch hier nehmen Personen verschiedene Rollen ein. Je nachdem, wie nah die Mitglieder aufeinander bezogen sind, kann die Community auch eine Form der Gemeinschaft sein.
Gruppendynamik – ja und?
Gruppendynamik entsteht in dem Moment, in dem wir verschiedene Menschen in einer Gruppe zusammenbringen. Wie diese miteinander in Kontakt treten, sich äußern oder nicht äußern, Konflikte austragen, ihre Beobachtungen und Reflexionen miteinander teilen, den Raum gestalten – all diese Dinge sind Ausdruck einer Dynamik.
Das heißt, egal was du in einer Gruppe tust (oder unterlässt): Es führt dazu, dass sich die Gruppe in eine bestimmte Richtung entwickelt. Du nimmst Einfluss auf diese Entwicklung, ob du willst oder nicht. Und: Du wirst durch die Verhaltensweisen der anderen Gruppenmitglieder ebenso in deinem Verhalten beeinflusst.
Ein Beispiel:
In deiner Community äußert sich eine Person verunsichert. Wie damit nun umgegangen wird, sagt viel über die Normen und Werte in der Community aus: Wird darauf eingegangen? Wird die Person in ihrer Unsicherheit gesehen und anerkannt? Bekommt sie hilfreiche Ratschläge von anderen? Wird der Kommentar komplett übergangen? Der Umgang mit Äußerungen wie diesen hat Einfluss darauf, wie offen sich die Mitglieder der Community in Zukunft äußern (Stichwort: psychologische Sicherheit).
Theoretischer Deep Dive
Aber lass uns noch ein bisschen tiefer in die Theorie zu Gruppendynamik einsteigen: König/Schattenhofer beschreiben zwei Sichtweisen auf Gruppen – den vertikalen Schnitt und den horizontalen Schnitt. Durch diese beiden Brillen können Gruppen betrachtet und analysiert werden.
Beim vertikalen Schnitt steht die Frage im Mittelpunkt, wo sich die Gruppe auf dem Spektrum zwischen innerer und äußerer Umwelt befindet. Bei Therapiegruppen etwa spielt das individuelle Innenleben der Gruppenmitglieder eine sehr wichtige Rolle, wohingegen die Arbeit in Gremien sehr wenig Individuelles zulässt und dafür die äußere Umwelt stärker in den Vordergrund rückt. In Gruppen findet ein ständiger Aushandlungsprozess darüber statt, die innere und äußere Umwelt in Einklang mit der Gruppe zu bringen.
Außerdem gibt es den horizontalen Schnitt: Den kannst du dir wie das bekannte Eisberg-Modell vorstellen. An der Oberfläche deiner Community ist so manches Verhalten sichtbar, es geht um bestimmte Themen und Ziele. Das ist die Sachebene. Doch unter der Oberfläche gibt es noch andere Faktoren, die auf die Gruppe einwirken: Auf der Beziehungsebene können wir beobachten, wie miteinander umgegangen wird und wie Verbindungen eingegangen werden. Darunter liegt die psychodynamische Ebene, also das Zusammenspiel der individuellen psychischen Prägungen der Mitglieder. Ganz unten befinden sich die Kernkonflikte der Gruppe. Je tiefer wir vordringen, desto unbewusster sind die Vorgänge und desto schwieriger wird es, darüber zu kommunizieren.

Wodurch entsteht die Dynamik?
Aus der Feldtheorie Kurt Lewins* abgeleitet, entsteht Gruppendynamik durch kontinuierliche Pendelbewegungen zwischen verschiedenen Polen:
- Zugehörigkeit – Autonomie
- Kooperation – Widerstand
- Mein Einfluss – Einfluss anderer
- Nähe – Distanz
- Individuelle Freiheit – Zusammenhalt
- Ruhe – Bewegung
- Spannung – Entspannung
- Fremdsteuerung – Selbststeuerung
Eine besondere Rolle nimmt dabei die Pendelbewegung zwischen Differenzierung und Integration ein: Auf der einen Seite gibt es die integrierenden Kräfte, die Verbindungen schaffen und die Gemeinsamkeiten der Mitglieder betonen. Auf der anderen Seite stehen die differenzierenden Kräfte, die Unterschiede in den Mittelpunkt rücken und verschiedene Meinungen und Spannungen zulassen. Diese Kräfte sind nicht an feste Personen gebunden, sondern stellen ein dynamisches Feld dar.
Nach dieser Theorie werden in gut funktionierenden Gruppen die Ausschläge in beide Richtungen mit der Zeit stärker: Es fällt der Gruppe zunehmend leichter, sowohl die Integration als auch die Differenzierung zuzulassen. Das führt gleichzeitig zur Weiterentwicklung der Gruppe. Du kennst das vielleicht auch aus eigenen Gruppenerfahrungen: Je mehr Vertrauen du in die Gruppe gefasst hast, desto leichter fällt es dir, dich auch mal von der vermeintlich vorherrschenden Meinung abzugrenzen – und desto eher fühlst du dich mit den anderen verbunden.

Gruppendynamik in der Community-Arbeit anwenden
Wir haben nun einiges an Theorie im Gepäck. Wie können wir als Community Builder*innen dieses Wissen nutzen? Wie könnten wirksame Interventionen aussehen? Hier ein paar Vorschläge:
- Normen und Werte setzen und immer wieder bekräftigen. Ob in einer Netiquette oder durch explizite Aushandlung – als Community ist es hilfreich, sich immer wieder die eigenen Werte und Normen bewusst zu machen. Insbesondere in der Anfangsphase geben die Werte, die sich die Gruppe auferlegt, wichtige Orientierung. Sie sind nicht in Stein gemeißelt, werden aber immer wieder zum Ankerpunkt. Mit der Zeit entstehen immer auch unausgesprochene Normen. Es lohnt sich, auch diese zum Thema zu machen.
- Rollen definieren und bestärken. Es kann unglaublich viel Energie freisetzen, wenn sich die Mitglieder deiner Community selbst Rollen geben. Diese können zum Beispiel entlang des Engagementgrads verlaufen (etwa eingeteilt in Core, Crew und Crowd) oder wichtige Aufgaben umreißen (etwa Meeting-Moderatorin, Fäden-Verbinderin oder Zusammenhalts-Stärkerin). Darüber hinaus entstehen in Gruppen immer auch implizite soziale Rollen, die wichtige Funktionen für eine bestimmte Situation erfüllen.
- Gruppendynamik reflektieren und erforschen. Ein Meisterstück der Community-Arbeit ist die Selbsterforschung – also die gemeinsame Reflexion dessen, was an Gruppendynamik sichtbar und spürbar ist. Dadurch können die Mitglieder Zusammenhänge herstellen, die im besten Fall zu mehr Verständnis und einem weiterentwickelten Miteinander führen. Die Erkenntnisse solcher Reflexionsprozesse sind oftmals auch auf individueller Ebene interessant (etwa wenn wir dadurch unser eigenes Verhalten in Gruppen besser verstehen).
- Stören, irritieren, konfrontieren. Auch das gehört zum Interventions-Repertoire: Die eingeübten Abläufe durchbrechen und ungewohnte Situationen schaffen, in denen sich die Gruppenmitglieder neu orientieren müssen. Dadurch kann die Gruppe einen neuen Umgang mit herausfordernden Lagen entwickeln. Es ist jedoch auf das richtige Timing und eine angemessene Intensität zu achten.
Fazit
Gruppendynamik entsteht im Miteinander und ist ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren. Als Community Builder*innen haben wir keinen direkten Einfluss darauf, wie sich einzelne Mitglieder verhalten. Es wird uns auch nicht gelingen, die gesamte Gruppendynamik zu durchdringen. Aber wir haben oftmals eine moderierende und strukturierende Funktion, um gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine fundierte Analyse kann uns Aufschluss darüber geben, an welchen Stellen die Gruppe reifen kann oder was vielleicht im Argen liegt. Daraus können wir dann wiederum Interventionen ableiten, die zur Weiterentwicklung der Gruppe beitragen.
Zum Reflektieren & Weiterdenken:
👉 Welcher Aspekt aus dem Thema Gruppendynamik hat dich besonders angesprochen? Wo kannst du diesen in deiner eigenen Community beobachten?
👉 Wie sieht eine kleine Intervention aus, die du daraus ableiten kannst?
Zum vertieften Einlesen:
📚 Oliver König und Karl Schattenhofer: Einführung in die Gruppendynamik
📚 Kurt Lewin: Feldtheorie
Liebe Grüße
Jenny
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