Lurker – das unverstandene Community-Wesen

Als Community-Manager:innen kümmern wir uns oft um die Aktiven – was verständlich ist, denn sie geben uns das Gefühl, etwas erreicht zu haben: dass es vorwärts geht, dass etwas in Bewegung ist, dass Dynamik entsteht… Da stecken wir dann unsere Energie rein und lassen uns anstecken. Aber es lohnt sich, innezuhalten und unseren Blick auch auf andere Mitglieder zu werfen.
Passive Mitglieder: Vom Problem zur Ressource
In der Welt des Community-Building gibt es kaum ein Konzept, das so häufig missverstanden wird wie das des "Lurkers". Diese Mitglieder, die am Rand stehen, mitlesen und beobachten, aber selten aktiv beitragen, werden oft als Herausforderung oder gar Problem betrachtet. Community-Manager:innen verbringen unzählige Stunden damit, Strategien zu entwickeln, um Lurker zu aktivieren oder in aktive Beitragende zu konvertieren.
Der Begriff "Lurker" – also Belauschen, Herumschleichen – transportiert schon eine negative Konnotation. Diese Personen tun vermeintlich nicht, was sie sollten – nämlich aktiv beitragen. Dabei übersehen wir: Nicht jede Form der Partizipation muss laut, sichtbar oder diskursorientiert sein. Und lurken kann ja auch lauern bedeuten… irgendwann schnappen die dann auch zu!
Jean Lave und Etienne Wenger, die Begründer des Communities-of-Practice-Konzepts, bieten mit ihrer Theorie des "legitimen peripheren Lernens" bereits ein gutes Konzept dafür. Sie beschreiben, wie Neulinge zunächst am Rand einer Community stehen, beobachten und allmählich hineinwachsen. Periphere Teilnahme ist aus dieser Perspektive nicht nur legitim, sondern ein fundamentaler Aspekt gemeinschaftlichen Lernens.
Die begriffliche Neuorientierung lädt dazu ein, Alternativen zum defizitorientierten Begriff "Lurker" zu finden: "beobachtende Lernende", "stille Teilnehmende" oder schlicht "Periphere". In all diesen Begriffen liegt nicht nur weniger Bewertung, sondern auch mehr Anerkennung für ein oft unsichtbares, aber tragendes Verhalten.
Warum Menschen sich peripher verhalten
Die Entscheidung, sich in einer Community eher zurückzuhalten, ist selten Ausdruck von Desinteresse. Häufig handelt es sich um ein Zusammenspiel persönlicher Präferenzen, situativer Umstände und sozialer Dynamiken.
Psycho-soziale Perspektive
Einige Menschen verarbeiten Informationen besser durch Beobachtung und Reflexion, bevor sie sich äußern. Sie denken langsamer, tiefer und bedachter. Diese kognitiven Verarbeitungsstile, die u. a. im Lernstilmodell von Honey und Mumford als "Reflectors" beschrieben werden, zeigen: Lernen durch Zuschauen ist keineswegs weniger wert – es ist nur anders. Das war 1982. Also handelt es sich dabei keineswegs um eine neue Erkenntnis, aber vielleicht eine vergessene?
Zudem spielen Faktoren wie Selbstwirksamkeit und Perfektionismus eine Rolle: Viele periphere Mitglieder zweifeln an der Relevanz ihrer Beiträge oder setzen sich selbst unter Druck, erst dann zu sprechen, wenn sie eine „perfekte“ Antwort formuliert haben. Die Angst, sich zu blamieren oder nicht ernst genommen zu werden, kann eine starke innere Hürde darstellen – insbesondere in Communities mit hoher Sichtbarkeit oder stark formalisiertem Wissensdiskurs.
Auch Persönlichkeitsmerkmale wie Introversion tragen zur Beobachter:innenrolle bei. Für introvertierte Menschen ist das ständige Sich-Einbringen energiezehrend. Ihre Zurückhaltung ist eine Form der Selbstregulation, keine Gleichgültigkeit.
Zusätzlich wirkt auf sozialer Ebene eine Vielzahl von Dynamiken mit hinein: Implizite Hierarchien innerhalb der Community können dazu führen, dass sich weniger erfahrene Mitglieder zurückhalten. In Gruppen, in denen bestimmte Personen besonders sichtbar oder dominant sind, wird das Risiko des "Dazwischensprechens" höher eingeschätzt. Kulturelle Normen spielen ebenfalls eine Rolle: In manchen Kulturen gilt es als respektvoll, zunächst zuzuhören, bevor man sich äußert – ein Verhalten, das in westlich geprägten Kontexten leicht als Passivität interpretiert wird.
Ein Beispiel:
Ich bin Teil eines Vereins, der ein altes Haus in einem kleinen Dorf im Thüringer Wald renoviert. Mit dabei: rund 38 Mitglieder, mehr oder weniger aktiv. Drei bis fünf von ihnen stemmen das Projekt – stellen Förderanträge, organisieren Baueinsätze, halten die Finanzen zusammen. Ich hingegen? Ich lese aufmerksam mit im Kanal „AG Bauen und Sanieren“, verfolge jede Nachricht, jedes Bild vom Fortschritt – aber ich schreibe nie etwas.
Ich lurke, weil ich keine Expertise mitbringe. Jedenfalls nicht im baulichen Sinne (außer vielleicht den üblichen Malerarbeiten, meistens dann, wenn ich aus meiner Wohnung ausziehe). Ich taste mich heran. Ich warte auf einen Workshop zu Lehmböden oder Ähnlichem, wo ich explizit als Lernender eingeladen bin. Dann wäre ich dabei. Bin ich deswegen passiv? Ich würde sagen: Nein. Ich bin da. Ich lerne. Ich baue Vertrauen auf. Und ich weiß: Irgendwann kommt mein Moment.
Technische und soziale Hürden
Hohe Einstiegshürden durch komplexe Plattformen, unklare Navigation oder intransparente Gruppenstrukturen können abschreckend wirken. Wenn etwa nur sehr ausführliche Textbeiträge als wertvoll gelten, erhöht dies die Schwelle zur Beteiligung enorm. Ebenso problematisch ist die Dominanz synchroner Formate – Personen mit knapper Verfügbarkeit, in Teilzeit oder mit Care-Verantwortung haben so kaum Chancen zur Einbindung.
Fehlende Transparenz und Orientierung
Wenn nicht klar ist, welche Beiträge erwünscht sind oder wie der Umgangston innerhalb der Community funktioniert, entsteht Unsicherheit. Mangelnde psychologische Sicherheit – etwa wenn Fehler nicht akzeptiert werden oder Kritik nicht konstruktiv eingeordnet wird – verstärkt diese Zurückhaltung. Fehlen klare Onboarding-Prozesse, bleiben neue Mitglieder oft über längere Zeit ungewollt in der Rolle der stillen Beobachtenden.
Der unsichtbare Wert peripherer Teilnahme
Bevor wir wieder in die Falle treten, die wir am Anfang dieses Artikels eigentlich entschärft haben (nämlich das periphere Mitglied als Problembär), schauen wir uns an, was unter der Oberfläche schlummert, wenn jemand nur zuhört, nur liest, nie schreibt. Was entgeht unserer Aufmerksamkeit, wenn wir nur auf Beiträge achten – und nicht auf das, was dazwischen geschieht?
Knowledge Carriers: Brücken zwischen Welten
Ein:e stille:r Zuhörer:in in einem Methoden-Call nimmt ein Konzept auf und bringt es ein paar Tage später im eigenen Teammeeting ein. Keine Erwähnung der Quelle, kein Verweis – aber der Gedanke lebt weiter. Diese Szene steht exemplarisch für das, was periphere Teilnehmer:innen oft leisten: Sie tragen Wissen über die Grenzen der Community hinaus. Nicht sichtbar, nicht dokumentiert – aber wirksam... Leider schwierig zu evaluieren, aber nicht unmöglich. Dem Thema widmen wir uns garantiert auch noch.
Lurker wirken oftmals als Brücken zwischen Innen und Außen. Gerade weil sie sich nicht tief in den Diskurs verstricken, behalten sie Anschluss an andere Räume. In dieser Zwischenposition liegt eine große Stärke: die Fähigkeit, Ideen zu übertragen, zu übersetzen, anschlussfähig zu machen.
Während aktive Mitglieder im Austausch Wissen gemeinsam konstruieren, sind periphere Teilnehmer:innen oft hervorragende Sinnstifteende. Sie beobachten die gesamte Konversation, erkennen Muster und ziehen ihre eigenen Schlüsse. Diese Form der stillen Interpretation kann zu einzigartigen Innovationen führen – wenn auch oft außerhalb der Community. Ein:e periphere:r Teilnehmer:in einer digitalen Lern-Community kann beispielsweise über Monate hinweg Themen verfolgen und schließlich ein neues Schulungsformat für das eigene Unternehmen entwickeln, inspiriert durch das Zusammenspiel der beobachteten Inhalte. Bringen sie das zurück in die Community? In meiner Erfahrung eher selten, was schade ist, denn es würde der Community einen großen Dienst erweisen.
Periphere Teilnehmer:innen wirken häufig als Diffusoren – sie nehmen Ideen aus der Community auf und verbreiten sie in andere Kontexte. Diese Diffusion ist entscheidend für die Wirkung einer Community über ihre Grenzen hinaus. Während aktive Mitglieder tief im Diskurs verankert sind, haben periphere Teilnehmer:innen oft ein breiteres Netzwerk außerhalb der Community. So werden Impulse aus einem Community of Practice-Treffen plötzlich auf LinkedIn geteilt oder fließen in ein Strategiepapier ein – ohne dass die Ursprungsquelle direkt erkennbar ist.
Audience Effect: Die Kraft des Publikums
Die bloße Existenz eines Publikums verändert die Qualität einer Diskussion. Der "Audience Effect" aus der Sozialpsychologie beschreibt, wie die Anwesenheit von Zuhörer:innen die Leistung von Akteur:innen beeinflusst. Lurker bilden ein aufmerksames Publikum, das aktive Mitglieder zu präziseren, durchdachteren Beiträgen motiviert. Wer weiß, dass die eigene Aussage mitgelesen wird, formuliert oft mit mehr Bedacht – nicht zuletzt, weil stille Leser:innen oft die Mehrheit bilden. In Feedbackrunden etwa zeigt sich, dass Rückmeldungen aus der Peripherie – etwa per Direktnachricht – häufig differenzierter und hilfreicher sind als spontane Reaktionen im Plenum.
Träger latenter Expertise
Die Lauernden bilden einen Pool latenter Expertise, der in kritischen Momenten aktiviert werden kann. Sie verfügen oft über Spezialwissen, das in regulären Diskussionen nicht sichtbar wird, aber bei spezifischen Fragen oder Herausforderungen wertvoll sein kann.
Hüter der Metaperspektive
Wer am Rand steht, sieht manchmal klarer. Periphere Teilnehmer:innen können Muster erkennen, die den Engagierten entgehen. Sie haben keine Rolle zu verteidigen, keine Agenda im Spiel. Sie schauen aus der Distanz, manchmal sogar mit Skepsis – und genau deshalb oft mit Schärfe.
In Retrospektiven sagen sie Dinge wie: „Ist euch aufgefallen, dass fast immer dieselben sprechen?“ oder „Mir fehlt eine Perspektive, die nicht so digital denkt.“ Das sind keine Nebenbemerkungen. Es sind Hinweise auf blinde Flecken. Diese Beobachtungen kommen selten laut. Oft in einer Nachricht danach. Oder in einem ruhigen Moment, beim Gespräch am Buffet. Aber sie sind Gold wert – wenn man sie hört.
Promotor:innen der Community
Manche der engagiertesten Fürsprecher:innen einer Community haben selbst nie aktiv etwas gepostet – aber sie erzählen davon, laden andere ein, empfehlen sie weiter. Ihre Perspektive ist weniger betriebsblind – oft positiver und idealistischer, als es das Kernteam kann, und… ansteckend.
Enablement statt Aktivierung: Beteiligung als Landschaft denken
Erfolgreiche Communities bieten unterschiedliche Räume: offene Plätze mit niedrigen Einstiegshürden und geschützte Räume für vertieften Austausch. Es geht nicht darum, alle „in die Mitte“ zu ziehen, sondern Beteiligung als Landschaft zu gestalten – mit vielen Wegen, Höhen und Tiefen, Ausblicken und Nischen. Entscheidend ist: Teilhabe muss nicht überall gleich aussehen, hier ein paar Ideen:
Anerkennung schaffen, wo sie oft fehlt: Erwähne in Community-Updates auch die "stillen Beiträge": "Danke an alle, die mitgelesen und Impulse in ihre eigenen Kontexte getragen haben." Diese einfache Geste signalisiert: Ihr seid gesehen, auch ohne zu posten.
Niedrigschwellige Beteiligungsformate etablieren: Polls, Reaktionen, kurze Check-ins – nicht jeder Beitrag muss ein Essay sein. Ein "Daumen hoch" für "Das probiere ich aus" kann mehr bewirken als gedacht.
Brücken zwischen Community und Außenwelt bauen: Frage explizit nach Anwendungserfahrungen: "Wer hat Ideen aus unserem letzten Austausch schon mal ausprobiert?" Diese Fragen machen sichtbar, was sonst im Verborgenen bleibt.
Räume für unsichtbare Beobachtungen schaffen: Anonyme Feedback-Runden, wo periphere Perspektiven geteilt werden können. Oft kommen hier die wertvollsten Metabeobachtungen – ohne dass sich jemand exponieren muss.
Die Einladung zur Selbstreflexion
Zurück zu meinem Thüringer Vereinshaus: Irgendwann wird mein Moment kommen. Vielleicht beim nächsten Workshop, vielleicht wenn jemand Unterstützung bei der Kommunikation braucht. Bis dahin bin ich da – lernend, vertrauensaufbauend, bereithaltend.
Und genau das ist der Punkt: Welche peripheren Mitglieder übersehen wir in unseren Communities? Welche stillen Beobachter warten auf ihren Moment?
Die Frage ist nicht, wie wir sie aktivieren. Die Frage ist: Wie schaffen wir Räume, in denen ihr Warten wertvoll ist – und ihr Moment, wenn er kommt, willkommen?
Quellen zum Weiterlesen
- Lave, J. & Wenger, E. (1991). Situated Learning: Legitimate Peripheral Participation.
- Honey, P. & Mumford, A. (1982). The Manual of Learning Styles.
Was uns noch beschäftigt
Dieser Artikel hat viele Fragen aufgeworfen, die wir in kommenden Beiträgen vertiefen wollen:
Messung des Unsichtbaren: Wie können wir den Wert peripherer Teilnahme tatsächlich erfassen? Welche Metriken jenseits von Posts und Kommentaren gibt es?
Onboarding für Beobachter: Wie gestalten wir Willkommensprozesse, die nicht nur auf aktive Beteiligung abzielen? Was brauchen periphere Lerner, um sich wohl zu fühlen?
Community-Architekturen für Stille: Welche digitalen und analogen Räume fördern unterschiedliche Beteiligungsformen? Wie designen wir bewusst für Peripherie?
Vom Lurker zum Contributor: Wann und wie vollzieht sich der Übergang? Was können wir aus natürlichen Entwicklungsverläufen lernen?
Kulturelle Dimensionen der Partizipation: Wie unterscheiden sich Erwartungen an Beteiligung in verschiedenen Kulturen und Kontexten?
Welches Thema brennt euch unter den Nägeln? Schreibt uns – aus der Peripherie.